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Worum es geht

Der Beitrag „Die Erzählung der Knappheit – Wie aus Mangel Macht wurde“ entlarvt einen der zentralen Mythen der modernen Ökonomie, nämlich den Glauben, dass Knappheit ein naturgegebenes Prinzip sei. Ich will zeigen, dass Knappheit kein objektives Faktum ist, sondern ein kulturell erzeugtes Deutungsmuster – ein ideologisches Werkzeug zur Disziplinierung des Begehrens, zur Rechtfertigung von Konkurrenz und zur Aufrechterhaltung globaler Machtgefälle. Anstatt Knappheit als ökonomische Grundbedingung zu akzeptieren, schlägt der Text eine radikale Kehrtwende vor. Ressourcen – ob materiell, sozial oder geistig – sind in Wahrheit wandelbar, rekonfigurierbar und im Überfluss vorhanden. Es ist unser Denken, das sie verknappt. Auf Basis von Thermodynamik, Quantenphysik, Systemtheorie und einer postutilitaristischen Anthropologie ruft der Essay dazu auf, eine neue Ökonomie zu denken, die auf Potenzial statt Mangel, auf Kreativität statt Kontrolle und auf Resonanz statt Effizienz basiert. Das Essay mündet in einen Appell: Nur wenn wir die Erzählung der Knappheit hinter uns lassen, kann eine gerechtere, inspirierende und schöpferische Ökonomie entstehen – eine Ökonomie der Fülle, des Vertrauens und des gemeinsamen Spiels mit Möglichkeiten.

Take-aways
  • Knappheit ist kein Naturgesetz, sondern eine kulturelle Erzählung. Sie wurde konstruiert, um Ordnung, Kontrolle und Hierarchien zu legitimieren, nicht weil Ressourcen tatsächlich fehlen.
  • Die Ökonomie basiert auf einem falschen Menschenbild. Der Homo oeconomicus als rationaler Nutzenmaximierer ist ein ideologisches Konstrukt – der Mensch handelt aus Sinn, Bindung und Kreativität (Homo creativus).
  • Unsere Finanzsysteme erzeugen systematisch Mangel. Schuld, Zins und Wachstumszwang schaffen ein künstliches „Nie-genug“, das Knappheit zur strukturellen Dauerbedingung macht.
  • Naturwissenschaftliche Erkenntnisse widersprechen dem Mangelparadigma. Thermodynamik, Quantenphysik und Systemtheorie zeigen: Energie zirkuliert, Materie ist wandelbar und Potenziale sind offen.
  • Globale Ungleichheit ist demnach kein Verteilungsproblem, sondern ein mentales Codierungsproblem. Viele Gesellschaften haben Knappheit kulturell verinnerlicht – als Erbe kolonialer Abwertung und struktureller Abhängigkeit.
  • Überfluss ist eine Frage der Deutungsmacht. Wer bestimmt, was als Ressource gilt, dominiert Zugang, Wertschöpfung und Handlungsspielräume – unabhängig vom tatsächlichen Bestand.
  • Kreativität widersteht Knappheit. In Schattenökonomien, Reparaturkulturen und informellen Märkten zeigt sich die ungebrochene Potenz menschlicher Gestaltungskraft – selbst unter Ausschlussbedingungen.
  • Die Logik der Knappheit verhindert Innovation. Wer vom Risiko ausgeht, wird die Möglichkeiten nie sehen. Innovation entsteht dort, wo Potenzial anerkannt wird, nicht dort, wo Mangel verwaltet wird.
  • Eine neue Ökonomie muss auf Vertrauen, Resonanz und schöpferischer Verschwendung beruhen. Nicht Effizienz, sondern Beziehungsfähigkeit, Freiheit und Spiel machen Systeme zukunftsfähig.
  • Der eigentliche Mangel liegt nicht in der Natur, sondern im Denken. Der Wandel beginnt dort, wo wir die mentale Erzählung der Knappheit verlernen und Fülle zur sozialen Praxis machen.
Weiter gedacht – Der vollständige Essay im Wortlaut:

Die Vorstellung, dass wir in einer Welt begrenzter Ressourcen leben, bildet das ideologische Fundament moderner Ökonomien. Knappheit gilt als Ausgangspunkt ökonomischer Theoriebildung sowie als Legitimationsquelle für Konkurrenz, Effizienzmaximierung und Wachstumszwang. Doch diese Vorstellung ist eine Lüge, die uns dazu verleitet, Dinge zu tun, die wir eigentlich nicht tun wollen, und uns davon abhält, das zu tun, was wir wirklich wollen.

Dabei erfüllt sie eine stille, autoritäre Funktion: Indem sie Mangel zur Grundannahme macht, diszipliniert sie unser Begehren, steuert unsere Entscheidungen und zieht Grenzen um das, was als vernünftig, möglich oder legitim gilt. Wer Knappheit nicht anerkennt, gilt schnell als naiv, verantwortungslos oder gar gefährlich. So wird Knappheit nicht nur zum ökonomischen Dogma, sondern auch zur kulturellen Kontrolltechnik. Doch diese Vorstellung ist nicht nur unvollständig, sondern auch irreführend.

Die Knappheit als kulturelle Konstruktion

Knappheit ist nicht einfach da – sie wird erzeugt. Indem wir Ressourcen als begrenzt erklärten, schufen wir ein Regelwerk für Tausch, Bewertung und Verteilung – so entstand die klassische Ökonomie. Ohne die Annahme von Knappheit gäbe es keine Preisbildung, keine Märkte und keinen Wettbewerb im herkömmlichen Sinne. Knappheit ist der Geist, den wir aus der Flasche ließen, um ökonomisch aktiv zu werden.

Die Idee der Knappheit ignoriert grundlegende Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften.

Dies geschieht durch Eigentumsrechte, Zugangsbeschränkungen, monopolistische Infrastrukturen und nicht zuletzt durch ökonomische Theorien, die Knappheit voraussetzen, um sich selbst zu begründen. Wer Knappheit behauptet, legitimiert Hierarchien. Wer bekommt wie viel? Wer entscheidet darüber? Und auf welcher Grundlage?

In Wahrheit leben wir in einem Überfluss: an Sonnenenergie, an menschlicher Kreativität, an zirkulierender Materie, an technischem Wissen. Doch dieser Überfluss wird institutionell gefiltert und marktlogisch verknappt. Unsere Finanzsysteme etwa beruhen auf Schulden und Zinsmechanismen, die ständige Knappheit erzwingen, um Kontrolle und Dynamik zu erhalten.

Thermodynamik, Systemtheorie und Quantenphysik

Die Idee der Knappheit ignoriert grundlegende Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften. Schon die Thermodynamik lehrt uns, dass Energie nicht verschwindet, sondern sich nur transformiert. In geschlossenen Systemen mag Entropie zunehmen – doch das menschliche Wirtschaftssystem ist kein geschlossenes System, sondern offen, dynamisch, eingebettet in einen energetischen Kreislauf.

Die aktuelle Quantenphysik geht noch weiter: Sie zeigt, dass Materie keine feste, abgrenzbare Einheit ist, sondern ein relationales Phänomen. Alles ist mit allem verbunden, das Trennende ist Illusion. Im Quantenraum existieren keine absoluten Grenzen, sondern nur Wahrscheinlichkeiten, Potenziale, Fluktuationen.

Übertragen auf die Ökonomie bedeutet das: Auch Ressourcen sind nicht starr und endlich, sondern kontextabhängig, wandelbar, rekonfigurierbar. Die Knappheit ist keine gegebene Realität, sondern ein dominantes Deutungsmuster, das wir verlernen könnten – wenn wir es wollen.

Der Mensch als homo creativus

Die neoklassische Ökonomie hat das Bild des „homo oeconomicus“ geprägt: ein rationales, nutzenmaximierendes Wesen in einer Welt des Mangels. Doch der Mensch handelt nicht primär rational. Wir handeln aus Bindung, aus Begehren, aus Emotion – und sehr oft aus Überzeugung. Unser Antrieb ist nicht Knappheit, sondern Bedeutung.

Ein neues ökonomisches Paradigma müsste den „homo creativus“ ins Zentrum stellen: ein Wesen, das Ressourcen nicht verbraucht, sondern verwandelt. Nicht Effizienz, sondern Resonanz. Nicht Kontrolle, sondern Beziehung.

Geld, Schuld und die Architektur der Knappheit

Unsere heutigen Finanzsysteme basieren auf Fiatgeld, das durch Vertrauen und institutionelle Macht abgesichert wird. Doch dieses System erzeugt über Zinsen und Schuldenstrukturen eine permanente Knappheit – ein „Nie-genug“, das Wachstum zur Notwendigkeit macht.

Eine Kultur, die sich selbst misstraut, kann kein Potenzial entfalten.

Kapital wird damit zur strukturellen Mangelverwaltung. Geld ist nicht mehr Tauschmittel, sondern Steuerungsmechanismus. Diese Architektur überträgt die Logik der Knappheit in alle gesellschaftlichen Bereiche: Bildung, Wohnen, Pflege, Energie, Nahrung. Die Knappheit ist nicht real, sondern produziert.

Globale Ungleichheit – mentales Erbe oder mechanische Verteilung?

Dass einige Länder in permanenter Knappheit leben, während andere im Überfluss versinken, ist kein bloßer Zufall der Geografie oder ein Verteilungsproblem. Es ist Ausdruck einer tieferliegenden mentalen Codierung, einer kollektiven Vorstellung von der Welt, die durch die kulturelle Konstruktion von Knappheit unterschiedlich verinnerlicht wurde.

Die Erzählung des Mangels erzeugt Angst – nicht vor dem Verlust, sondern vor dem Unbekannten. So verwandelt sich das Mögliche in Risiko, das Werdende in Bedrohung. Eine Kultur, die sich selbst misstraut, kann kein Potenzial entfalten.

Die künstlich erzeugte Knappheit ist somit nicht nur eine ökonomische Steuerungslogik, sondern auch eine psychopolitische Matrix. Sie formt die Wahrnehmung von Gemeinschaften hinsichtlich ihrer selbst und ihrer Möglichkeiten. In vielen Regionen des Globalen Südens wurde über Jahrhunderte ein Bewusstsein geprägt, das Knappheit nicht nur erlebt, sondern auch internalisiert hat – oft als Folge kolonialer Ausbeutung, struktureller Abhängigkeit und kultureller Entwertung. Hier wird Knappheit nicht nur erfahren, sondern geglaubt.

Überfluss als Deutungsmacht

Demgegenüber konnten sich einige Gesellschaften das mentale Modell des Überflusses leisten – nicht, weil sie objektiv mehr besaßen, sondern weil sie über die Deutungsmacht verfügten, Ressourcen zu definieren, den Zugang zu kontrollieren und die Wertschöpfung zu dominieren. Sie denken in Möglichkeiten, andere in Mangel.

Kreative Energie lässt sich nicht vernichten – sie zirkuliert, verwandelt sich und findet immer neue Formen.

Die Spaltung verläuft also nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern zwischen zwei Weltbildern: dem der Limitierung und dem der Potenz. Diese Polarisierung ist jedoch kein Naturgesetz, sondern die Folge einer Ideologie, die Knappheit als Voraussetzung für Ordnung, Kontrolle und Wachstum installiert hat.

Die Ideologie der Knappheit durchbrechen

Solange wir an dieser Ideologie festhalten, werden wir die globale Ungleichheit nicht nur reproduzieren, sondern auch kulturell verfestigen. Erst wenn wir beginnen, Knappheit als mentale Fiktion zu entlarven und Fülle als soziale Praxis zu kultivieren, wird eine gerechtere Welt möglich.

Das zeigt sich nicht zuletzt in den Schattenwirtschaften: Selbst unter extremen Mangellagen finden Menschen aus den ärmsten Regionen der Welt immer wieder kreative Wege, ihre faktische Potenz auszuleben. Sei es auf improvisierten Märkten, in der Reparaturkultur, in selbstorganisierten Gemeinschaftsprojekten oder informellen Ökonomien – die menschliche Schöpferkraft ist unauslöschlich.

Widerständige Kreativität als Beweis

Kreative Energie lässt sich nicht vernichten, sondern zirkuliert, transformiert sich und findet stets neue Ausdrucksformen. Gerade dort, wo der formale Zugang zu Ressourcen versperrt ist, blüht oft eine Ökonomie des Einfallsreichtums. Diese widerständige Kreativität entzieht sich der Kontrolle, unterläuft die Logik der Verknappung und beweist: Der Mensch ist kein passives Opfer ökonomischer Umstände, sondern ein aktives Wesen der Gestaltung.

Die Frage ist nicht, ob Potenzial existiert, sondern ob wir es anerkennen, fördern und in systemische Bahnen lenken, die nicht Mangel verwalten, sondern Möglichkeiten entfalten.

Der Geist aus der Flasche

Knappheit war der notwendige Mythos, um Ordnung in eine potenziell unendliche Welt zu bringen. Doch was einst als Werkzeug diente, hat sich verselbstständigt. Die Erzählung der Knappheit ist längst kein Mittel zur Organisation mehr, sondern ein Dogma – ein Weltbild, das Kooperation durch Konkurrenz ersetzt und aus potenzieller Fülle systematisch Mangel konstruiert.

Die eigentliche Knappheit herrscht nicht in der Natur. Sie herrscht in unserem Denken.

Hätten wir uns stattdessen an der Idee der Fülle orientiert, also der Vorstellung, dass Bedürfnisse nicht in permanenter Konkurrenz zueinander stehen, sondern durch gemeinschaftliche Gestaltung befriedigt werden können, wäre vielleicht ein kooperatives und solidarisches Wirtschaftssystem entstanden.

So aber lebt unsere Ökonomie vom permanenten Alarmzustand des Mangels. Der Mythos der Knappheit sorgt dafür, dass wir nicht innehalten, nicht teilen, nicht vertrauen, sondern immer schneller, effizienter und härter agieren. Nicht, weil es nötig wäre, sondern weil uns erzählt wurde, es gäbe nicht genug für alle. Dieser Geist aus der Flasche hat uns blind gemacht für die Möglichkeit, dass es auch anders ginge.

Eine Ökonomie der Fülle und Verschwendung denken

Was wir brauchen, ist kein weiteres technisches Update, sondern einen Perspektivwechsel. Wir brauchen eine Ökonomie, die nicht vom Mangel, sondern vom Potenzial ausgeht. Eine Ökonomie des Überschusses, nicht des Verzichts. Eine Ökonomie, die nicht diszipliniert, sondern entfesselt. Eine Ökonomie, die nicht verwaltet, sondern inspiriert.

Die natürlichen Ressourcen mögen endlich sein, doch die Knappheit, die unsere Wirtschaft prägt, ist zumeist menschengemacht. Nicht die Natur setzt die schärfsten Grenzen, sondern das Narrativ, das wir über sie erzählen. Wir sollten aufhören, Begrenzung als Grundwahrheit zu betrachten, und Verschwendung nicht länger als Irrtum, sondern als Möglichkeit begreifen: als Ausdruck experimenteller Freiheit, sinnstiftenden Spiels und inspirierender Kreativität. Denn die eigentliche Knappheit herrscht nicht in der Natur. Sie herrscht in unserem Denken. Und genau dort beginnt der Wandel.

Oliver Fiechter

Oliver Fiechter ist CEO von Kipuka und der Begründer der Ökonomie 3.0, eines alternativen Wirtschaftsmodells. Dieses will den Kapitalismus nicht abschaffen, sondern neu codieren: jenseits von Konsumreligion, Wachstumsdogma und Finanztechnokratie. Er denkt Wirtschaft vom Menschen her – und vom System, nicht vom Symptom. Seine Texte auf diesem Blog kartografieren die Bruchlinien zwischen Technologie, Macht und Sinn. Ironisch, konzeptuell und unbestechlich setzen sie einen Kontrapunkt im Zeitalter der Algorithmusvermarktung.